LectoRLange
Freies Lektorat

Kurgeschichten von Rebecca Lange 

Ein Nachmittag mit Oscar (10.10.2020)

Liam hatte sich gerade sein Bier geöffnet und das Tor zum Garten geschlossen. Für heute Nach-mittag erwartete er keinen Besuch mehr und freute sich auf einen entspannten Sonntag an sei-nem Pool. Die Sonne schien durch die dichten Baumkronen auf die Wasseroberfläche und bildete faszinierende Lichteffekte. Liam ließ seinen Blick über die Wiese schweifen, auf der hier und da ein paar Blumen blühten. Weiter hinten in seinem Garten standen die beeindruckenden Begonien, in deren Anpflanzung und Pflege er sein ganzes Herzblut gesteckt hatte. Wenn er diese Idylle vor seinen Augen sah, hatte er jeden Grund, mit Stolz erfüllt zu sein. Als er sich gerade seine erste Zigarette ansteckte, erblickte er plötzlich einen alten Mann, der hinter dem Zaun durch die Bäume blickte. Liams Familie wohnte seit über vierzig Jahren in diesem Dorf und er kannte jeden einzel-nen seiner Nachbarn. Dieses Dorf war der einzige Ort auf dieser Welt, an welchem alle politischen Probleme unwichtig zu sein schienen. Als wäre er aus der restlichen Welt entrückt. Hier gab es niemals Streit und alle Menschen begegneten sich mit Freundlichkeit. Es hätte wohl niemand zu-gelassen, dass jemand diese Idylle zerstören würde und dadurch kam es wohl auch, dass die Dorf-gemeinde, welche gleich einer geschlossenen Gesellschaft funktionierte, Neuankömmlingen und Zugezogenen eher skeptisch gegenüberstand. So viel hier jeder von dem anderen wusste, so wenig hatte die äußere Welt Einfluss auf diesen Ort. Darum wunderte sich Liam sehr, dass er diesen Mann noch niemals hier gesehen hatte. Er war wie durch einen unerwarteten Zufall einfach hier aufgetaucht. Seine Kleidung und seine gesamte Körperhaltung kamen Liam merkwürdig und fremd vor, als wäre diese wunderliche Gestalt aus vergangenen Zeiten hergekommen. Ob aus natürlicher Neugier oder angeborenem Argwohn hatte Liam das dringende Bedürfnis, diesen Fremden kennenzulernen.
Er stellte widerwillig sein Bier ab, drückte seine angefangene Zigarette aus, stand auf und näherte sich dem Zaun. Als der Mann ihn kommen sah, zeichnete sich ein leichtes, aber sehr schüchternes Lächeln auf seinem Mund ab. Seine gesamten Gesichtszüge schienen trotzdem von diesem un-scheinbaren Lächeln betroffen zu sein, als hätten sie nur darauf gewartet,
sich von einem Lächeln einnehmen zu lassen. Je näher Liam dem Fremden kam, desto bekannter kam er ihm vor. In seinen Augen spiegelte sich eine erschreckende Weisheit und Welterfahrung, sodass Liam stehen blieb und einen Moment innehielt. Der Mann sagte nichts und schaute ihn nur weiter an. Liam hätte es sich beinahe anders überlegt, als aus seinem Mund fast schon unbewusst, als hätte dieser seinen eigenen Willen entwickelt, die Worte kamen: „Hallo, wer sind Sie denn?“ Liam schob es auf das allgemeine Misstrauen Fremden gegenüber, dass diese Worte viel anklagender klangen, als er gehofft hatte. Der Mann schien es nicht zu bemerken oder ließ sich davon jedenfalls nicht ein-schüchtern. Er antwortete freundlich: „Hallo, ich bin Oscar. Sie haben hier einen wirklich schönen Garten.“ Seine unbeschwerte Art hatte eine beruhigende Wirkung auf Liam und er bat ihn zu sich herein, während er auf das Gartentor zeigte.
Sie setzten sich gemeinsam an den Pool und Liam bot Oscar ein Bier an. Sie schauten eine ganze Weile im Garten umher, ohne auch nur ein
einziges Wort zu sprechen. In jeder anderen Gesellschaft wäre Liam dieses Schweigen sehr unangenehm gewesen und er hätte zwanghaft versucht, ein Gesprächsthema anzubringen. Aber seltsamerweise hatte er in der Gesellschaft dieses Mannes kein Gefühl solcher Peinlichkeit. Mit jedem Moment, den sie so nebeneinandersaßen und schwiegen, schien Liam den Mann besser zu kennen, obwohl sie nicht sprachen, konnte er ihn doch verstehen. Wie er seinen Blick über die Wiese schweifen ließ, ebenso wie Liam nur wenige Minuten zuvor, wie die Begonien seine Aufmerksamkeit gleichwohl einfingen wie ein spannendes Theaterstück. Das alles ließ Liam eine Vertrautheit zu diesem Fremden spüren, die er nicht erklären konnte.
Nach einiger Zeit begann Oscar wieder zu sprechen: „Constance hätte dieser Ort sehr gefallen. Sie liebte die Schönheit der Natur, obwohl ihre Schönheit diese weit zu übertreffen vermochte.“ Liam hatte bereits die Frage nach der besagten Constance auf den Lippen, als etwas in Oscars Gesichtsausdruck ihn davon abhielt, diese hervorzubringen. Oscars Blick war auf den Garten gerichtet, aber es schien, als schaute er durch ihn hindurch. Als würden Erinnerungen vor seinen Augen auftauchen, die nur er sehen konnte. Sein Gesicht zeichnete einen Ausdruck tiefer Traurigkeit
ab und Liam glaubte, auch großes Bedauern darin zu erkennen. Er wollte keine alten Wunden aufreißen, deshalb entschloss er sich, diese Aussage unkommentiert hinzunehmen und das Thema zu wechseln.
„Also, Oscar, was führt Sie hier her?“
Aber der alte Mann schaute ihn nur überrascht an, als hätte seine Frage ihn aus einer anderen Welt gerissen. Eine, die nur noch in seinem Kopf existierte und in der Realität längst der Vergessenheit angehörte. Doch nach wenigen Sekunden hatte er diese Überraschung überwunden und erklärte Liam: „Ich weiß es nicht. Ich saß in meinem eigenen Garten und dachte über die Vergänglichkeit der Schönheit nach. Dabei muss ich wohl für einige Zeit die Augen geschlossen haben. Als ich sie wieder öffnete, schaute ich mich in dieser fremden Umgebung um und erblickte Sie.“
Liam erschien dieser Zufall als recht ungewöhnlich und er bemerkte, dass seine gewohnte Skepsis die unnatürliche Vertrautheit, welche er zu diesem Mann aufgebaut hatte, wieder zu verdrängen begann. Oscar schien ihm seine Ungläubigkeit, die er deutlich an Liams hochgezogenen Augen-brauen ablesen konnte, nicht übel zu nehmen. Im Gegenteil vermittelte er selbst fast das Gefühl, dass er das Geschehene nicht erklären konnte. Dieses Mal war es Oscar, der das Thema wechsel-te: „Sagen Sie mir, Liam, glauben Sie an die Wirkung von Masken?“

Liam war nun an der Reihe, überrascht zu sein. Einerseits war ihm nicht ganz klar, von welchen Masken der Mann neben ihm sprach. Andererseits wollte er seine Unsicherheit nicht zugeben, da der Mann so selbstsicher und überzeugend gefragt hatte, als würde er annehmen, dass Liam doch ganz sicher wissen würde, wonach er ihn fragte. Und trotzdem entstand ein kaum merkbares Lächeln auf Oscars Gesicht, während er sich dem durch seine Frage ausgelösten Schweigen bewusst wurde. Als hätte er nur darauf abgezielt, Liam in Verlegenheit zu bringen. Während Liam noch immer über eine passende Antwort nachdachte, begann Oscar, sich zu erklären:
„Nun, Liam, es ist doch offensichtlich, dass eine Maske versucht, etwas zu verbergen. Obwohl sie zuweilen auch dazu verwendet wird, eine schauspielerische Darstellung zu unterstreichen und etwas ganz Neues zu erschaffen. Dabei muss sie aber zwangsläufig auch die Identität des Schau-spielers verstecken. Denn es ist wohl jedem geläufig, dass ein Schauspieler auf der Bühne nur vor-gibt, etwas zu sein, das er in Wirklichkeit keineswegs ist. Legt er zu viel von sich selbst in eine Rolle, erscheint er mit großer Wahrscheinlichkeit als schlechter Darsteller. Und jetzt frage ich Sie, ob Sie an diese Wirkung glauben, oder ob sie nicht eher der Meinung sind, dass eine Maske die Ge-fahr birgt, das wahrhaft Schöne zu verdecken?“

Auf diese Frage hatte Liam sofort eine Antwort: „Natürlich wird eine Maske immer die Wahrheit verstecken, dazu wurde sie doch aber erfunden.“ Oscar nickte ihm anerkennend zu. In seinen Au-gen sah Liam wieder diese Weisheit, welche er schon bei seinem ersten Blick auf diesen unerwarteten Mann bemerkt hatte. Aber sein Lächeln war sehr listig und berechnend. Als würde er Liam gleich vor die nächste Herausforderung stellen wollen, nur um ihm etwas zu zeigen. Liam empfand das aber keineswegs als unangenehm oder fühlte sich dadurch angegriffen. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass er von der Weisheit dieses Mannes noch etwas lernen könnte und es nur seine Art von Humor war, ihn so auf die Probe zu stellen. Als wollte er, dass Liam selbst die Lösung dieses Rätsels finde, dass er selbst diese Wahrheit demaskieren sollte. Nur konnte Liam beim besten Willen nicht ahnen, welche Wahrheit das sein sollte. Wer hätte gedacht, dass dieser Sonntag noch eine so interessante Wendung nehmen würde? Oscar unterbrach erneut Liams Grübeln: „Und vor wem nehmen Sie Ihre Maske ab?“ Liam war verblüfft. „Ich verstehe nicht ganz. Ich bin kein Schauspieler.“
„Und ob Sie das sind, Liam. Sie spielen jede Minute eine Version von Ihnen selbst. Und je nach Situation oder Person variieren diese Rollen.“
„Aber wenn das stimmt, was ist denn dann mein wahres Ich?“
Oscar beobachtete ihn mit einem wissenden Lächeln und fragte noch einmal: „Vor wem nehmen Sie Ihre Maske ab?“ Und Liam begann langsam zu verstehen.
Nur er selbst konnte sein wahres Ich kennen, denn vor anderen würde er immer irgendetwas zu-rückhalten und wenn es ein noch so kleines und unbedeutend scheinendes Detail ist. Nur er selbst kann alle Varianten seiner selbst zusammenfügen. Und nur er selbst würde auch alle diese Rollen kennen und wissen, welche davon der Wahrheit entsprechen und welche nicht.
Oscar hatte es Liam mit Sicherheit angesehen, dass er zu solch einem Schluss gekommen war, denn er saß still neben ihm und lächelte zufrieden.
„Wird es dann jemals jemanden geben, der alle meine Seiten kennt und versteht?“, fragte Liam fast schon beängstigt. Denn wenn das nicht der Fall wäre, stellte er sich das Leben unendlich ein-sam vor. Oscar schien diese Frage nicht zu überraschen. „Das hängt ganz allein von Ihnen ab.“

Und Liam musste auch das einsehen. Allerdings bemerkte er in Oscars Stimme wieder dieses Be-dauern, welches ihm bereits ins Gesicht geschrieben war, als er von Constance gesprochen hatte. Er fragte sich, welche Rolle diese Frau in Oscars Leben gespielt hatte, aber er hatte schon wieder nicht den Mut, danach zu fragen.
Oscar brach erneut das Schweigen: „Robert war der Einzige, der das wirklich verstanden hatte. Er machte sich das Schauspielern in einer Art und Weise zu Nutze, dass er fast jeden überzeugen konnte. Jeder in seinem Umfeld sah ihn genau so, wie Robert es gern wollte. Nur mir offenbarte er hin und wieder einige Geheimnisse, die er hinter dieser Maske verborgen hielt.“
Liam merkte, dass Oscar in einer anderen Art von Robert sprach als von Constance. In seiner Stimme lag nun kein Bedauern oder Traurigkeit. Er sprach sehr liebevoll von Robert und in seinen Augen glänzte eine Freude, als würde er an glückliche Momente zurückdenken.
Dann kehrte Oscar wieder in die Gegenwart zurück und sah Liam freundlich an. „Ich danke Ihnen für Ihre angenehme Gesellschaft. Und nun werde ich mich verabschieden.“

Liam hatte in dieser kurzen Zeit ein solch ungewöhnliches Gefallen an diesem Mann gefunden, dass er völlig vergessen hatte, wie es eigentlich dazu gekommen war. Er hatte sich ihm sehr ver-traut und verbunden gefühlt. Und er konnte sich nicht an sein letztes Gespräch erinnern, das ihn in einer solchen Weise aufgeweckt hätte. „Aber wo wollen Sie denn jetzt hin?“, fragte er ihn ungläubig, weil die Sonne bereits langsam den Horizont berührte und auch sein geheimnisvolles Auf-tauchen nicht geklärt war. Oscar nickte ihm noch einmal zu, während er lächelnd aufstand. In seinen Augen sah Liam noch ein letztes Mal diese verblüffende Weisheit und Oscar antwortete: „Weiter.“
Dann verschwand er auf demselben Weg, den er gekommen war und obwohl Liam ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtete, war er irgendwann nicht mehr zu sehen. Liam saß noch lange am Pool und dachte über diesen merkwürdigen Nachmittag nach. Als es bereits tiefste Nacht war und die Sterne sich im Poolwasser spiegelten, ging er hinein und an seinen Bücherregalen vorbei, in denen er jedes Werk von Oscar Wilde, seinem Lieblingsschriftsteller, gesammelt hatte. Und er wunderte sich noch ein letztes Mal über diese ungewöhnliche Vertrautheit, die er bei diesem Fremden gespürt hatte.